Mit Wasserstoff zum grünen Stahl

17.11.2021 | Salzgitter Flachstahl GmbH


Die ersten Schritte zu neuen Produktionsverfahren in der Stahlindustrie erfordern schon jetzt viel Erfindungsreichtum und Pioniergeist
Es geschieht nicht alle Tage, dass sich eine Branche quasi neu erfindet. Doch die globalen Klimaziele erfordern von einigen Industrien genau dies – weil die Anstrengungen zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes für sie neue Rahmenbedingungen definieren. So produziert die Automobilbranche künftig vermehrt Elektrofahrzeuge. Die Stahlindustrie wiederum treibt die Dekarbonisierung ihrer Produktionsverfahren voran; schließlich verursacht der Sektor Eisen und Stahl circa 30 % der industriellen CO2-Emissionen in Deutschland.
Die Stahlindustrie hat den Wandel hin zum grünen Stahl aus eigener Initiative eingeleitet. ­Anfangs schienen sich hierfür mehrere Lösungsansätze anzubieten. Überlegt wurde, das bei der klassischen Rohstahlproduktion prozessbedingt frei werdende CO2 im Erdboden einzulagern oder es chemisch umzuwandeln beziehungsweise zu anderen Stoffen zu verarbeiten. Doch relativ schnell zeichnete sich eine andere Lösung als der nachhaltigere Weg ab, den die Salzgitter AG schon gleich zu Anfang mit dem Projekt ­SALCOS® – ­SAlzgitter Low CO2 Steelmaking beschritten hat: Wird die Freisetzung der Treibhausgase vermieden, muss niemand über ihre Entsorgung nachdenken. Statt Lösungen für ein Problem zu suchen, das Problem gar nicht erst entstehen zu lassen, ist ein eleganter wie sinnvoller Ansatz.

Strukturelle Veränderungen nötig

Die Technologie hierfür existiert mit der Direktreduktion bereits und muss nicht mehr erfunden werden. Verkürzt gesagt, löst dieses Verfahren in der Rohstahlerzeugung das Eisen aus dem Erz nicht durch den Einsatz von Kohle, sondern unter Zuhilfenahme von Wasserstoff. Dieser wiederum stammt aus Erdgas oder wird mittels Elektrolyse aus Wasser gewonnen. Direktreduktionsanlagen sind bereits in Ländern in Betrieb, in denen Erdgas günstig verfügbar ist.
Die Pioniertat liegt daher nicht in der Entwicklung des grundsätzlichen technischen Verfahrens für die künftige Stahlproduktion, sondern in der Integration einer solchen Verfahrensroute in ein bestehendes Hüttenwerk, der Verwendung von großen Anteilen an Wasserstoff in der Direktreduktionsanlage und im Aufbau einer klimaneutralen Wasserstoffwirtschaft sowie einer Anbindung der Industrie an die Energiewirtschaft – auch bezeichnet als Sektorkopplung. Denn Wasserstoff kann in der Rohstahlerzeugung den fossilen Energieträger Kohle nur dann klimaneutral ersetzen, wenn für die Elektrolysen ausreichend Strom aus erneuerbaren Energien zur Verfügung steht. Die Windkraftanlagen, die in und am Hüttenwerk der Salzgitter Flachstahl GmbH aufgestellt wurden, veranschaulichen diesen Wandel schon jetzt. Die Realisierung des Projekts „Windwasserstoff Salzgitter – WindH2“ kam auch in anderer Hinsicht einer Pionierleistung gleich. Denn die Genehmigung eines Windparks an einem Industriestandort, der der Störfallverordnung unterliegt, stellte an die Projektleitung hohe Anforderungen und bedurfte besonderer Vorkehrungen. Dementsprechend gilt der Windpark heute als Referenzprojekt mit „Leuchtturm“-Wirkung. Er ist die erste industrielle Sektorkopplung in Deutschland.

Vielfältige Aufgaben für den Wandel

Neben vielen regulativen Anpassungen erfordern die Sektorkopplung und der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft im Detail viele neue technische Lösungen – für effiziente Elektrolyseverfahren ebenso wie für die Transport- und die Lagerinfrastruktur des Wasserstoffs.
Die nötige nationale Verteilungsinfrastruktur für den Wasserstoff ist ein weiteres Feld für Innovationen. Das in Deutschland gut ausgebaute Erdgas-Fernleitungsnetz wird hinsichtlich seiner Eignung für den Wasserstofftransport ebenso geprüft wie der Bedarf für den Um- oder Zubau von Wasserstoffleitungen.
Die besonderen chemischen und physikalischen Eigenschaften des Wasserstoffs erfordern zudem neue Überwachungsverfahren, um die Sicherheit der Anlagen für Erzeugung, Transport, Speicherung und Verwendung des Wasserstoffs auf hohem Niveau zu gewährleisten. Hierfür werden wissenschaftlich fundierte Messmethoden, Bewertungskriterien und technische Normen entwickelt und international verabschiedet – Regelungen, die auch im Alltag eines auf die Produktion von „Grünem Stahl“ ausgelegten Hüttenwerks künftig berücksichtigt werden müssen.

Auch die Politik muss umgestalten

Während also Industrie und Wissenschaft für die Dekarbonisierung der Stahlindustrie technische Lösungen anbieten, fehlen noch die Voraussetzungen für den Betrieb. „Die Anlagentechnik ist da. Was noch fehlt, sind die notwendigen regulatorischen Rahmenbedingungen für einen wirtschaftlichen Betrieb“, bringt Dr. Alexander Redenius, Projektleitung SALCOS®, das momentane Dilemma auf den Punkt. Unter anderem die Befreiung von der EEG-Umlage, Schutz vor unfairen Handelspraktiken und Investitionszuschüsse wären zielführend.
Prof. Dr.-Ing. Heinz Jörg Fuhrmann, der ehemalige Vorstandsvorsitzender der Salzgitter AG, verweist in diesem Zusammenhang auf die hohe Förderungseffizienz im Stahlsektor: „Die erste SALCOS®-Ausbaustufe vermeidet bei einer Investition von gut 1 Mrd. € so viel CO2, wie es dem Austausch von einer Million Verbrenner-Pkw gegen elektrische Autos entspräche.“ Zur Erinnerung: Der Kauf so vieler ­E-Mobile würde derzeit mit bis zu 9 Mrd. € gefördert werden. Prof. Fuhrmanns Fazit lautet daher: „Wir legen mit SALCOS® in Relation zu der Menge an damit vermeidbarem CO2 das wohl im Sektoren- und Branchenvergleich investiv günstigste Angebot vor.“
Die Bundesregierung hat mittlerweile eine nationale Wasserstoffstrategie und ein Handlungskonzept Stahl verabschiedet. Das Konzept des Bundesministeriums für Wirtschaft zur nationalen Wasserstoffstrategie erwähnt auch explizit die Anstrengungen der Stahlbranche als eine konkrete Maßnahme zum Aufbruch in eine wasserstoffbasierte Industrie. Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz, wonach die CO2-Emissionen früher in größerem Umfang als vom Gesetzgeber ursprünglich vorgesehen gemindert werden müssen, könnten diese Anstrengungen nun noch stärker in den Fokus rücken.
Als ein weiterer Schritt soll im kommenden Jahr eine erste Direktreduktionsanlage im Demonstrations-Maßstab auf dem Gelände der Salzgitter Flachstahl in Betrieb gehen. Sie wird neben der Umsetzung der Technologie auch eine Erkenntnis verkörpern: Die Einführung neuer Produktionsverfahren in der Rohstahlerzeugung waren nicht nur eine Aufgabe für die Ingenieure und Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, sie sind es auch für ihre Kolleginnen und Kollegen der Gegenwart.

Diesen und weitere Artikel finden Sie in der Ausgabe 02/2021 der STIL - dem Magazin der Salzgitter AG.